Tag 62

Am siebzehnten Mai brach ich von der mexikanischen Grenze aus in mein bisher größtes Abenteuer auf. Das war vor genau zwei vollen Monden. Dieser Zeitraum fühlt sich für mich bereits nach einer halben Ewigkeit an, da ich so unglaublich viel erlebe und damit jeder einzelne Tag ein Unikat in meiner persönlichen Lebensgeschichte wird.

Kurz nach vier Uhr morgens trat ich in das Dunkel der späten Nacht und packte mein Zelt und alles andere in den Rucksack ein. Ich frühstückte mit Zero, wir wussten beide, dass das frühe Aufstehen ein notwendiges Übel war. Wir wollten so früh wie möglich oben auf dem Gipfel des Glen Pass sein, solange der Schnee noch von der eisigen Nacht gefroren war. Je später wir losgehen würden, desto mehr würde er in der Sonne schmelzen und einen gnadenlos versinken lassen.

Viele schliefen noch in ihren bunten Zelten, als wir Meile für Meile unseren Weg nach oben bahnten. Die Luft wurde merklich dünner und das Atmen wurde zu einem rastlosen Keuchen. Meine Muskeln brannten, da immer wieder riesige steinerne Stufen zu erklimmen waren. Immer wieder liefen wir an klaren Schmelzwasserseen und Teichen vorbei. In der Wasseroberfläche spiegelten sich die Berge in ihrer vollen Pracht und Größe. Ein Anblick für die Götter.

Je höher wir kamen, desto öfter mussten wir mit Microspikes über Schneefelder gehen. Wir wurden unendlich langsam, da jeder Schritt wohlüberlegt und sicher erfolgen musste. Es galt die Regel der Dreipunktbelastung. Es müssen immer mindestens drei von vier Berührungspunkte auf dem Boden sein (zwei Füße und ein Trekkingstock oder umgekehrt). Rechts unter mir lag ein noch halb gefrorener Bergsee, der bedrohlich und wunderschön zugleich wirkte. Das eisige und rutschige Schneefeld, auf dem ich ging, führte steil in den Schlund des Berges hinab, in dem das eiskalte Wasser ruhte. Ein falscher Tritt und es hätte aus sein können. Ich schwebte in absoluter Konzentration. Jeder Muskel meines Körpers war angespannt. Ich versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen, während ich jeden Schritt mit Bedacht plante.

Der Trail wurde immer und immer wieder von Schneemassen verdeckt und so verliefen wir uns plötzlich. Wir glaubten in die richtige Richtung zu gehen und im Prinzip lagen wir auch nicht daneben, nur hatten wir den Pfad knapp verpasst und wählten eine alternative Route, die eigentlich keine war. Wir kletterten loses Geröll hinauf und als wir den PCT wieder sahen, blockierte ein sehr steiles Schneefeld unseren Weg. Es waren auch keine Fußspuren zu sehen, in die wir hätten treten können. Wir standen da und wogen die Risiken ab. Wir glaubten, es gäbe nur zwei Optionen. Die erste war, das Schneefeld direkt zu passieren. Die zweite auf dem Geröll weiter empor zu klettern. Doch Option Zwei würde unweigerlich zu Option Eins führen, da sich der Schnee bis nach oben erstreckte. Und so wagten wir es.

Zero ging voraus, er hatte einen Treckingstock in der einen und eine Eisaxt in der anderen Hand. Wir bewegten uns in Zeitlupe. Ich fing an schneller zu atmen, Adrenalin durchströmte meinen Körper. Meine Beine fingen an zu zittern, ob aus Erschöpfung oder aus Angst vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht aus Beidem. Ich fand manchmal kaum Halt in dem von der Sonne ausgebuchteten Schnee. In mir brannte der Überlebenstrieb. Auf halbem Weg blieb Zero stehen, er wusste nicht weiter. Ich rief ihm zu, er solle mit der Eisaxt Löcher in den eisigen Schnee schlagen, um den nächsten Schritt machen zu können. Und so blieb er immer wieder stehen, hockte sich hin und hackte kleine Ausbuchtungen in das Eis. Irgendwann war er auf dem Trockenen. Ich hatte plötzlich panische Angst weiterzugehen, da es steiler nach unten ging und ich befürchtete beim nächsten Schritt abzurutschen. Ich hatte eben keine Eisaxt, mit der ich mich im Schnee hätte verankern können. Zero warf mir deshalb seine zu und beim zweiten Versuch hatte ich sie. Ich verankerte die Axt mit der Rechten im Schnee und machte vorsichtig meine nächsten Schritte. Ich kam mir vor wie in einem bösen Traum. Irgendwie kam ich wohlbehalten an und musste Zero erstmal umarmen, so fertig war ich mit meinen Nerven. Das hatte nichts mehr mit Wandern zu tun, sondern vielmehr mit alpinem Klettern.

Zero vor mir am Arbeiten
Steiler geht es kaum noch

Kurz darauf erreichten wir den Gipfel und ich wurde von meinen Emotionen so überwältigt, dass ich einen lauten Schrei ausstieß. Gefühle wie Erleichterung, Freude und das unbeschreiblich präsente Gefühl zu leben drangen aus meinem Innersten. Die Südseite, auf der wir hinabgingen, war weniger schlimm, auch wenn noch mehr Schnee lag als am Nordhang. Wir hatten die Gelegenheit zweimal den Schnee hinabzurutschen. Beim zweiten Mal war ich am Ende so schnell, dass ich von der Bahn abkam und beinahe in ein Geröllfeld gerutscht wäre. Doch ich hatte Glück und konnte rechtzeitig abbremsen.

Als wir die höchsten Lagen verließen kamen wir in ein wahres Seenparadies mit saftig grünen Wiesen. Ein Schmelzwassersee nach dem anderen erstreckte sich vor uns. Irgendwann überkam es mich und ich wollte in einem der glasklaren Seen baden. Gesagt, getan. Es war eisig, doch gleichzeitig sehr erfrischend. Der Trail führte uns weiter nach unten. Und das Felsmassiv, auf das wir zuliefen, wurde immer majestätischer. Wir wussten beide: da müssen wir morgen rauf. Wir zelteten an einem reißenden Fluss, der von einer schaukelnden Hängebrücke überzogen wurde.

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