Tag 121

Eiseskälte lag in der Morgenluft. Ich brauchte eine gefühlte Ewigkeit, um in die Gänge zu kommen. Langsam aber sicher kündigte sich der Winter an. Aber aufgepasst: sich bei Wintereinbruch noch in den Bergen Washingtons aufzuhalten konnte lebensgefährlich werden. Ich hatte es jedoch nicht mehr weit.

Endlich! Die Sonne erhob sich über die Baumkronen und spendete ihr Licht und ihre Wärme. Ich war überglücklich. Die gleißenden Strahlen schmerzten ein wenig in meinen Augen. Dunkle Tage lagen hinter mir.

Im Laufe der Zeit zogen dennoch hin und wieder Wolken auf. Mich störte das kein Bisschen. Der Horror von gestern war erstmal überstanden und das war im Moment alles, was zählte. Außerdem fügten sie der ohnehin schon schönen Landschaft noch eine spannende Note hinzu.

Mein Weg führte mich durch alpine Hochwiesen mit spektakulären Aussichten. Zwischen den hohen Gräsern lugten kleine Köpfe hervor. Hier lebte eine ganze Kolonie Murmeltiere! Meine Ankunft wurde lautstark angekündigt. Die schrillen Rufe hallten durch die Weiten der Landschaft. Das Geräusch ähnelte ein wenig dem einer schrillen Pfeife. Sie warnen sich so gegenseitig vor möglichen Gefahren. Aus einiger Entfernung konnte ich eine Kampfszene beobachten, vermutlich ein Revierkampf zwischen zwei Männchen. Eines der Murmeltiere hatte seinen Bau ziemlich nah am Trail errichtet und zu meinem Erstaunen war der kleine Kerl alles andere als scheu. Diese Begegnung versüßte mir den Tag.

Eisgraues Murmeltier

Die Vegetation war noch immer klitschnass. Meine Bemühungen trocken zu bleiben waren vergebens. Immer wieder berührte ich Pflanzenteile. Das Wasser lief in meine Schuhe, wo sich meine Socken mit der Zeit wie Schwämme vollsogen. Kurze Zeit später hatte ich das Gefühl förmlich im Wasser zu stehen.

Ich musste mich beeilen. Heute hatte ich eine Strecke von sechsundzwanzig Meilen geplant. Also in etwa die Distanz eines Marathons. Mit Rucksack.

Bäume fast so dick wie ich groß war, vielleicht sogar dicker, wuchsen in einem Wald weiter unten im Tal. Einige waren vor Jahren umgestürzt und ich betrachtete fasziniert den Querschnitt eines dieser Giganten. Eine lange Holzbrücke erleichterte mir das Überqueren eines Flusses.

Auf der anderen Seite erwartete mich eine Überraschung. Eine echte Waldtoilette! Wie man sich denken kann, hatte ich es mir hier draußen zur Gewohnheit gemacht mein Geschäft wie die Asiaten zu verrichten. Nämlich in der traditionellen Hocke. Jedenfalls war ich von diesem Ding so angetan, dass ich es direkt ausprobieren musste. Wie der König des Waldes saß ich dort auf meinem hölzernen Thron. Als Klopapierersatz habe ich übrigens Baumblätter verwendet. Eine echte Outdoor-Geschäftserfahrung.

Die letzte Etappe des Tages bestand aus einem acht Meilen Anstieg. Auf dem Weg zu meinem Lagerplatz kam dann doch noch ein kleiner Regenguss. Meine mittlerweile wieder halbwegs trockenen Füße wurden erneut nass. Den Marathon beendete ich abends ein wenig frierend und sehr müde. Morgen würde ich in Stehekin ankommen, meinem letzten Zwischenziel vor dem großen Finale.

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