Tag 123

Gegen neun Uhr morgens startete ich mit einem französischem Wanderer namens „Ritual“. Die allerletzte Etappe meiner Wanderung stand mir bevor. Ich lag sehr gut in der Zeit. Nächster Halt: Kanada!

Ich versuchte ab jetzt die letzten Tage noch einmal so richtig in mich aufzunehmen. Ich drosselte daher mein Tempo, machte mehr und längere Pausen entlang des Weges. Ich atmete bewusster. Wenig später kam die Sonne aus ihrem Versteck, ihre Strahlen erhellten mein Gemüt.

An einer Flussbrücke machten wir Rast und aßen in Ruhe unser Mittagessen. Ein freches Streifenhörnchen musste wohl meine Nussbutter gerochen haben und schlich sich vorsichtig an. Amüsiert beobachtete ich die Szene. Das kleine Tier fand ich sowas von niedlich. Ohne Worte…

Es ging weiter den Berg hinauf. Unterwegs merkte ich zu meinem Entsetzen, dass ich meinen UV Sterilisator nicht mehr hatte. Ich musste glücklicherweise nur eine knappe Meile zurückgehen, das Gerät lag noch an einem kleinen Gebirgsbach.

Ein Trail Angel hatte entlang des Weges eine Miniatur des „Northern Terminus“ gebaut und eine Nachricht hinterlassen. Hier die Übersetzung:

Herzlichen Glückwunsch! Du hast es geschafft! Du bist angekommen! Schau dich um im großen weißen Norden von Kanada! Schmeckst du nicht die Poutine [Nationalgericht Kanadas], siehst du nicht das Tim Hortons gleich um die Ecke?
Okay, es ist nicht Kanada, es ist nicht das ECHTE Monument, aber lass nicht zu, dass die Tatsache, dass Mutter Natur die Regeln aufstellt, die Unermesslichkeit dessen schmälert, was du gerade getan hast. Du hast etwas erreicht, von dem so wenige sagen können, dass sie es überhaupt versucht haben. Sieh dich um, sieh dir die Menschen an, die zu deiner Familie geworden sind, sieh dir die Wildnis an, die zu deinem Zuhause geworden ist. Diese Momente gehören dir, für immer. Und kein Flächenbrand der Welt könnte dir das jemals nehmen.

Du bist angekommen.
Du bist ganz,
und du solltest so unglaublich
stolz auf dich sein.

Herzlichen Glückwunsch!

Stephanie Blue

Ich war gerührt. Vor Jahren muss es einen Brand weiter nördlich gegeben haben, daher die Nachricht und das Miniaturmonument als Ersatz.

Als ich zuende gelesen hatte sah ich vor meinem geistigen Auge unzählige Bilder aufkommen. Ein unbeschreibliches Gefühl überkam mich. Ich stand dem Ende meiner Reise so nah…

Der Wald endete plötzlich und ich fand mich auf befestigter Straße wieder. Ein Schild mit der Aufschrift „PCT Trail Magic“ wies auf einen Truck und ein Pavillon. Ein älterer Mann mit weißen Haaren und weißem Bart verteilte selbstgemachte vegane Kekse und Getränke. Und ich hielt mich für so schlau die Existenz des Weihnachtsmannes anzuzweifeln. Die Zweifel waren jedenfalls in derselben Sekunde verflogen.

Er hatte Unmengen von Keksen gebacken, daher stopfte ich mich ohne schlechtes Gewissen voll. Irgendwie konnte ich gar nicht mehr aufhören. Ich musste mich irgendwann auf die Gefahr von Bauchschmerzen hin selbst bremsen. Ich verbrachte mit den Anderen schöne Stunden bis in den Abend hinein. Gummibear und Ritual waren auch da. Der Weihnachtsmann verabschiedete sich irgendwann und wir suchten uns eine Stelle zum Übernachten. Ich mag es nur ungern zugeben, aber wir entschieden uns für ein öffentliches WC. Wir waren ziemlich erfroren und in dem kleinen Häuschen war es merklich wärmer als draußen.

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